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Evolutionismus: (von lat. evolutio »Entwicklung»): die Auffassung, gesellschaftliche Institutionen, irrationale Vorstellungen, bes. Religionen, Denkweisen u.ä. seien stets aus einfacheren, oft von ihren Abkömmlingen erheblich unterschiedenen Vorstufen entstanden, wobei partielle Rückfälle zu diesen immer wieder möglich bleiben. –
     Der ~ wurde von Ethnologen und Gesellschaftswissenschaftlern des 19. und des vor-hitlerischen 20. Jahrhunderts ausgeführt; bes. Andrew Lang, James George Frazer, Wilhelm Wundt und Herbert Spencer sind zu nennen. Ausgangspunkt waren dabei stets ethnologische Beobachtungen, die damals erstmals in größerer Breite und Zielstrebigkeit getätigt wurden, vor allem aber auch noch getätigt werden konnten, da ihre Objekte noch bestanden. Sie zeigten, daß eine wenig entwickelte materielle Kultur, besonders, wenn sie etwa dem archäologisch nachgewiesenen Paläolithikum oder, mit anderen Charakteristika, Neolithikum Europas (als des archäologisch damals bestbekannten Beispiels) entsprach, an ihren Parallelkulturen eine Reihe auffälliger Gemeinsamkeiten in Empfindungsweise und Institutionen aufweist, und zwar unabhängig von den geographischen Grundlagen, die die sonstigen Eigenheiten dieser Kulturen bedingen (also z.B. Küsten- oder Binnenlage, Schwemmland oder Wüste, Polar- oder Äquatorialposition), ebenso wie von der Rasse ihrer Träger.
     Der ~ war insofern angreifbar, als seine Vertreter oft eine Art Hegel'sches Schema immanenter Geistesentwicklung postulierten, d.h. daß die von ihnen beschriebenen Entwicklungsphasen aus innerer Notwendigkeit aufeinander folgen würden, wofür in der Tat nichts spricht. Hauptsächlich unter Berufung darauf wurde er als vorherrschende Betrachtungsweise in der Ethnologie durch den Funktionalismus abgelöst, d.h. eine freiwillig auf Synchronizität beschränkte Sicht, die in jedem gleichzeitig beobachtbaren gesellschaftlichen Phänomen einen Funktionsträger sieht und sucht, wobei diese Phänomene funktional (aber meist verdeckt und ihren Trägern nur selten bewußt) aufeinander bezogen sind. Die allen Phänomenen gemeinsame »utility function«, d.h. zu maximierende Funktion, ist dabei stets die Fortsetzung der jeweiligen Gesellschaft, niemals das individuelle Wohl ihrer persönlichen Träger, also Mitglieder. Als Repräsentant des bewußt unhistorischen, sich als Alternative zum ~ präsentierenden Funktionalismus kann Talcott Parsons gelten.
     Die einzelnen Ergebnisse der funktionalistischen Analyse gesellschaftlicher Phänomene, besonders in vor-metallzeitlichen Gesellschaften, sind meistens plausibel. Dennoch ist logischerweise nicht zu bestreiten, daß die gleichen Phänomene unabhängig von ihrer Funktion auch eine Geschichte gehabt haben müssen, so sehr zu vermuten ist, daß sie bei völligem Funktionsverlust absterben (allerdings können sie analog zu Organen von Lebewesen auch neue Funktionen bekommen und frühere verlieren). Zwischen der funktionalistischen und der evolutionistischen Betrachtungsweise besteht daher kein logischer Widerspruch, falls sie nicht jeweils ideologisch deformiert werden, etwa durch Hegel'schen Idealismus oder positivistisches Denkverbot (auf Historizität, Kausalität und Entstehung).
     Die moderne Feindseligkeit gegen den ~ ist dagegen ohne rationale Grundlage; sie richtet sich nicht gegen ideologische Beschränktheiten oder Deformationen des ~s, sondern gegen die Wahrnehmung historischer (oder struktureller) Entwicklungsstufen gesellschaftlicher Phänomene überhaupt, insbesondere homogener irrationaler Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen (wie Animismus, Totemismus oder Theismus). Ihr einziges vorgeblich rationales Argument ist der gewiß leicht zu führende Nachweis häufiger Koexistenz von Elementen, die nach der Auffassung des ~ verschiedenen Phasen zuzuordnen sind; der uns umgebenden professoralen Polemik gegen den ~, welche ausschließlich dieses Phänomen ausbeutet, fehlt nicht nur vorsätzlich jeder Sinn für Reliktäres oder für Regression, die jederzeit möglich ist, sondern auch für Statistik, welche eine eindeutige Häufung der charakteristischen Entwicklungselemente auf den zugehörigen Stufen zeigt (sowie ein Fehlen der entwickeltesten auf den frühesten, »primitiven« = ursprünglichen Stufen). Damit zeigt sie ihren ideologischen Charakter: die Entwicklung irrationaler (sowie auch diesen entgegengesetzter) gesellschaftlicher Phänomene, vor allem der Religion, wird geleugnet, weil sie deren Verständnis ermöglicht, das seinerseits den Herrschaftsträgern wegen ihrer Verwertbarkeit gerade für Herrschaftszwecke stets unerwünscht ist. In diesem Zusammenhang ist auch die häufige Behauptung zu verstehen, paläolithische oder neolithische Gesellschaften könnten ebenso komplex wie moderne sein, da sie oft ungeheuer komplizierte Verwandtschaftssysteme, Tabuvorschriften oder Mythologien aufweisen; dem ist zu entgegnen, daß deren führende Mitglieder bei genügender Intelligenz diese Inhalte ohne weiteres vollständig erfassen und vermitteln können, während zum Erfassen des gesamten gesellschaftlich verfügbaren Wissens einer auch nur einigermaßen entwickelten Gesellschaft keines ihrer Mitglieder in der Lage wäre; dies macht die Leugnung des Komplexitätsunterschiedes vor- und nachmetallzeitlicher oder gar industrieller Gesellschaften gegenstandslos und erlaubt daher sehr wohl die ideologisch verpönte Anerkennung des Unterschiedes zwischen primitiven und entwickelten Gesellschaften, eine Leugnung, die ebenfalls zu den Zielen der modernen Universitäts- und Medienpolemik gegen den ~ gehört; ihr Hauptziel freilich bleibt die Verhinderung des Verständnisses gegenwärtiger gesellschaftlicher Irrationalitäten, wie es die Rekonstruktion ihrer Entwicklung ermöglicht, auf jeden Fall erleichtert.


 
 
 

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