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Kontingenz: (von lat. contingere »eng berühren«, davon natürlich auch »Kontakt«): Die gleichzeitige oder unmittelbar aufeinanderfolgende (sich also örtlich oder zeitlich berührende, in Kontakt gebrachte) Wahrnehmung zweier Reize. –
     Einziges Mittel der Konditionierung bzw. Dressur, bei deren wissenschaftlicher Untersuchung sie auch beschrieben und erforscht wurde (Pawlow, Watson, Skinner). Die wahrgenommenen Objekte oder Vorgänge (z.B. Tonfolgen, Geräusche, Gesten) werden dadurch zu Reizen (stimuli), daß mindestens eines oder einer davon schon durch das genetische Programm des Empfängers (des Versuchstiers oder der Versuchsperson) eine positive (z.B. Futter, als geeignet wahrgenommene potentielle Sexualobjekte) oder negative (z.B. Schmerz) Bewertung auslöst; indem die ~ dieses mit dem anderen, meist neutralen Vorgang oder Objekt verknüpft (da die Bewertung der nicht-neutralen Wahrnehmung gleichzeitig mit derjenigen des neutralen oder schwächer eine Bewertung auslösenden Objekts erfolgt, die Wahrnehmung desselben also zusammen mit der automatischen Bewertung des anderen wahrgenommen wird), wird auch das andere Objekt bzw. der andere Vorgang zum Reiz. In psychologischer Fachsprache heißt er dann CS (conditioned stimulus), der genetisch vorprogrammierte entsprechend UCS (unconditioned stimulus).
     Die Herstellung einer negativen (aversiven) Kontingenz zur einem bis dahin positiven, ein bestimmtes Verhalten auslösenden Reiz, damit das jeweilige Tier dieses Verhalten unterläßt, heißt in der Jägersprache verleiden, besonders, wenn es mit einem bestimmten Ort verknüpft ist. Die bewußte Herstellung von ~en, besonders negativer, zur Erzielung oder Unterdrückung eines bestimmten Verhaltens urteilsunfähiger Subjekte (etwa Tiere und Schwachsinnige) war schon seit ältester Zeit in Gebrauch (Strafe). Ihre systematische Ausweitung und ihr bewußt umfassender Einsatz, vor allem in Werbung und Propaganda, ist dagegen jüngeren Datums und verwertet planmäßig die Forschungsergebnisse der Lerntheorie, welche sich mit den Mechanismen der ~ befaßt. Dagegen haben unplanmäßig Religionen und Machtapparate die Herstellung von ~en ebenfalls schon vor unvordenklichen Zeiten durchaus wirkungsvoll genutzt (z.B. die durch Verteilung von Süßigkeiten oder Münzen bei Regierungsantritt).
     Eine ~ verliert ihre Wirkung, wenn der sekundäre, also erst durch ~ zu einem solchen gewordene, Reiz (bzw. der ihn tragende Gegenstand oder Vorgang, welcher zum Auslöser geworden war) längere Zeit nicht mehr im Zusammenhang mit dem primären wahrgenommen worden ist (Extinktion).
     Dies ist von der Regelmäßigkeit abhängig, mit welcher die ~ erneut wahrgenommen wird; je unregelmäßiger dies erfolgt, umso länger dauert es bis zur ihrer Extinktion bzw. der Extinktion des von ihr ausgelösten Verhaltens oder Unterlassens. Die Auslösung eines Verhaltens durch einen in Kontingenz mit einem natürlichen Auslöser gebrachten Reiz wird umso verläßlicher erfolgen, je häufiger diese Kontingenz hergestellt wurde (und dieser Vorgang nennt sich Verstärkung), merkwürdigerweise hält diese Verstärkung aber länger vor (es dauert also länger bis zu ihrer Extinktion), wenn die ~ nicht jedesmal hergestellt wurde, sondern nur bei jeder zweiten, dritten etc. Wiederholung, und noch länger, je unregelmäßiger dies stattfand.
     Die Erklärung dafür liegt in der Evolution. Es ist für ein Tier vorteilhaft, eine belohnte Handlung, zumeist Futtersuche, zu wiederholen, wenn ein damit verknüpfter Reiz (z.B. ein rotblühender Zweig) wieder auftaucht; denn statistisch steigert die Wahrscheinlichkeit der Belohnung an den mit dem Reiz verknüpften Stellen oder Anlässen an. (Es erhöht durch dieses Verhalten also seine Fortpflanzungswahrscheinlichkeit.) Umgekehrt ist es unvorteilhaft, wenn es dieses Verhalten zu lange wiederholt, ohne daß es belohnt wird, weil es damit Energie verliert (oder im unvorteilhaft protrahierten Unterlassungsfall Chancen). Ähnliches gilt für die Regelmäßigkeit oder Unregelmäßigkeit des Auftretens der »Belohnung«. Tiere, deren neuronaler Apparat das für sie statistisch günstigste Verhalten bewirkt, werden diesen daher auch mit der höchsten Wahrscheinlichkeit vererben, d.h. es wird bald, von neuen und schnell wieder verschwindenden Mutationen abgesehen, nur noch diesen neuronalen Apparat geben.
     Da die Chancenerhöhung durch ein Verhalten, welches den oben genannten, empirisch ermittelten Prinzipien entspricht, statistisch optimal ist und von fundamentaler Bedeutung, hat es sich offenbar bald nach den Neuronen selbst herausgebildet (also spätestens im Kambrium) und mangels Bedarf auch nicht mehr geändert; folglich läßt sich die entsprechende Wirkung der Kontingenz auch an sämtlichen Lebewesen feststellen, die ein auch nur einigermaßen entwickeltes neuronales System aufweisen. (Möglicherweise hat sich diese Wirkung mehrfach gebildet; denn wir finden sie auch bei zahlreichen Weichtieren und Gliederfüßlern, die sie entweder schon oder relativ bald hergestellt bzw. besessen haben müssen, als unsere eigenen Vorfahren noch sessile Hufeisenwürmer waren, die ein entsprechendes Nervensystem noch nicht hätten nutzen und dementsprechend entwickeln können.) Variabel von Art zu Art sind an den ~wirkungen nur die Extinktionszeiten, eventuell unterschieden nach der Aufwendigkeit bzw. Gefährlichkeit der extingierten Handlungen (bzw. der ihnen zugrundeliegenden Emotionen), was ökologische Gründe hat.
     Ein so fundamentales, universales und zugleich so brauchbares neuronales Schaltsystem kann durch ein aufwendigeres und präziseres wie den bewußten Vergleich verfügbarer Gedächtnisinhalte nur überlagert, nicht ersetzt werden; letzteres hätte aufgrund seiner Zeitaufwendigkeit auch Selektionsnachteile. (Umgekehrt kann die bewußte Unterdrückung erkennbar aussichtsloser oder gefährlicher Handlungswiederholungen oder -unterlassungen bei langlebigen Arten wie der unseren auch einen erheblichen Selektionsvorteil bewirken.) Die Wirkung der ~ bleibt daher auch bei unserer Art von größter Bedeutung; sie führte bei einigen Psychologen zu dem treffenden Satz: »Macht ist Kontrolle über die Verstärker.« Aufgrund dieser fundamentalen Bedeutung der ~ kann diese auch therapeutisch genutzt werden, da jedes durch die gegebenen Umstände bzw. die Erinnerung des jeweiligen Subjekts nicht erklärbare Handlung oder Emotion eine Folge früher eingetretener ~en (der »Lerngeschichte« des Individuums i.S. der Lerntheorie, nicht eines bewußten, absichtsvollen Lernens) sein muß. Es bieten sich zwei Wege an:
     1) Die »Lerngeschichte« wird spekulativ vorausgesetzt und künstlich (aktiv) eine entgegengesetzte an sie angeschlossen (Verhaltenstherapie). Dieses Verfahren hat den ökonomischen Vorteil, relativ wenig Aufwand zu erfordern; sein Nachteil besteht in seiner grundsätzlichen Willkürlichkeit, es ist zu jedem beliebigen Ziel einsetzbar und strukturell mit der Dressur identisch.
     2) Die empirische Ermittlung der wirklichen »Lerngeschichte«, also der gespeicherten ~en des durch diese geschädigten Individuums, um es durch deren bewußte Beurteilung in den Stand zu versetzen, ihr bzw. ihnen zu widerstehen. Diese Ermittlung bzw. Rekonstruktion leistet die Psychoanalyse durch Auswertung der freien Assoziationen des behandelten Subjekts, welches diese Auswertung stets vollständig mitvollziehen und dadurch kontrollieren kann und soll. Da bei diesem Vorgehen die gesamte Konditionierung des Individuums einschließlich ihrer herrschaftserhaltenden Anteile (die schon in vormenschlichen Gesellschaften wie Affenhorden von größter Bedeutung sind, nämlich die Ränge stabilisieren) prinzipiell reversibel wird, gerät die Psychoanalyse mit allen Systemen rational nicht vollständig zu rechtfertigender Herrschaft strukturell in Konflikt und ist dadurch in sämtlichen derselben stets und unausweichlich von Unterdrückung, Fälschung oder Entstellung bedroht. – 
     Die beiden therapeutischen Ansätze schließen einander in der Praxis nicht vollständig aus; denn auch die therapeutische Wirkung der Psychoanalyse wird erheblich gesteigert, wenn das sie mitvollziehende (»behandelte«) Subjekt in geschickter Weise die Handlungen, an denen es durch die Wirkungen der gespeicherten, aber jetzt erstmals rational beurteilbaren Kontingenzen abgeschnitten war, aktiv und absichtlich vollzieht und in der Folge durch das Erleben ihrer Straf- bzw. Folgenlosigkeit oder sogar angenehmer Folgen neue, den alten entgegengesetzte Kontingenzen speichert und dadurch eine neue, glücklichere Lerngeschichte der verflossenen hinzufügt (Freud, GW XII 191sq.).  


 
 
 

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