Geist: Bedeutung schwankend zwischen »(fast) körperloser Person« und »wundersamer, unklar gasförmiger Substanz«; beide Bedeutungen treten fast nie rein auf, sondern bleiben in unterschiedlichen Anteilen inkonsequent gemischt. – Da das Wesen des Subjekts als komplizierte Hirnfunktion erst in historisch sehr später Zeit geklärt werden konnte, bildete sich die Vorstellung eines vom Körper lösbaren Subjekts heraus, und zwar hauptsächlich aus drei Quellen: 1) der Selbstbeobachtung, nämlich der Erinnerung an Träume u.ä.; 2) der Fremdbeobachtung, nämlich des unwillkürlichen, durch Kontingenz (Gräber, Knochen etc.) erzeugten, besonders lebhaften Erinnerns an Verstorbene; 3) der Beobachtung des Atems und seiner zwingenden Verknüpfung mit dem Zustand des Lebens bzw. dessen irreversibler Beendigung (bei den meisten landlebenden Wirbeltieren wie insbesondere unserer eigenen Art). Dieser letztere Ausgangspunkt für die Vorstellung eines »~«es ist in zahlreichen Sprachen vor allem etymologisch sehr gut nachweisbar (siehe etwa lat. spiritus zu spirare »atmen«, lat. animus zu gr. Wind (gr.) »Wind« ) und erklärt vor allem die häufige Zentrierung der Vorstellung auf der Gasförmigkeit (extreme Verschiebung auf »gasförmige, besondere Substanz« etwa bei »Wein~«). Wird der ~ auf der Basis der Beobachtung (2) mit einer bestimmten verstorbenen Person verknüpft, so fällt die Bedeutung von ~ sowohl mit »Seele« wie »Gespenst« zusammen. Löst sich dagegen die Zuschreibung von ~ern zu konkreten Verstorbenen, so können diese ~er stärker individualisiert und gesellschaftlich standardisiert werden; mit noch weiter fortschreitender Vergesellschaftung und Elaborierung der entsprechenden Vorstellungen werden sie zu Göttern (Gott). Hat sich die entsprechende Vorstellung erst einmal gefestigt (d.h. wurde gesellschaftlich ausgestaltet und einigermaßen verbindlich standardisiert), so können prominente Verstorbene, insbesondere politische Führer, auch unmittelbar, d.h. ohne längeren Umweg über das ~-Konzept, zu Göttern werden (Apotheose) oder zu solchen als Lebende in eine feste, bis zur Identität gehende Verbindung treten (Inkarnation).
     Eine besondere Bedeutung gewinnt die ~-Vorstellung in den verschiedenen Spielarten der idealistischen griechischen Philosophie, vor allem derjenigen Platos. Hier verschiebt sich der Akzent der Wortbedeutung (das griech. Äquivalent zu dt. »Geist« ist »Geist (gr.)«) immer stärker fort von der »fast körperlosen Person« auf die »wundersame, fast materielose Substanz«, welch letztere dennoch subjektartige Züge niemals ganz verliert, auch wenn diese im konkreten historischen Extremfall bisweilen verleugnet werden, was freilich nie lange gelingt. Der Grund dafür ist darin zu suchen, daß gewisse gesellschaftliche Entwicklungen, vor allem bewußte Warenproduktion mit Exportorientierung, in der Folge Münzprägung und Fortschritte vor allem der abstrakten Wissenschaften (Mathematik, Grammatik, Logik), die Glaubwürdigkeit und damit den zur Verteidigung der bestehenden Güter- und Machtverteilung nützlichen Drohwert standardisierter »körperloser Personen«, also der zu Göttern entwickelten ~er, untergraben hatten. Die mit keiner »übernatürlichen Psychologie« belastete substanzorientierte ~-Vorstellung hatte und hat zwar geringeren Drohwert, ist aber dafür weniger anfällig gegen Verstandesanstrengungen, denen sie hinhaltenden Widerstand leistet und dabei historisch bis vor recht kurzer Zeit menschheitsweit bestehende Wissenslücken ausnutzt. Ihre proreligiöse Strategie lebt bezeichnenderweise in der Suggestion vager Subjektqualitäten sehr schwer faßbarer und nur mit Mühe vorstellbarer subatomarer Substanzen bis heute fort (obwohl diese aufgrund fehlender Komplexität noch viel weniger als alle anderen Subjektqualitäten haben können), insbesondere der Heisenberg'schen »Quantentheologie« und ihrer unzähligen, naheliegenderweise stets staatliches Wohlwollen genießenden Popularisierungen (»beseelte Materie« usw.). Eine besondere Bedeutung gewann die ideologische Aktivität der altgriechischen Idealisten in unserem Zusammenhang durch das Christentum. Entstanden in einem relativ peripheren und rückständigen Teil des römischen Imperiums, aber beinahe sofort konfrontiert mit der durch einen recht hohen technischen und intellektuellen Entwicklungsstand bedingten Untergrabung der Glaubwürdigkeit eines allzu leicht als hyperstilisierter Mensch erkennbaren Gottes, setzte es diesen, da als mythologischer Faktor für seine Zwecke unverzichtbar, auf den Spuren Platos und mit geringer biblischer Anknüpfung mit einem »Heiligen ~« gleich. Sank dadurch der Drohwert, wurden in den Geleisen der biblischen Mythologie die persönlichen Züge hervorgehoben, sank dadurch wiederum die Glaubwürdigkeit, auf den platonischen Geleisen die unpersönliche, aber dennoch vage subjektive und zugleich sehr stark und wundersam verdünnte Substanz – ein argumentatives Hase-und-Igel-Spiel, das mit der Verfestigung des Christentums als »erste und dritte Person der hl. Dreieinigkeit« dogmatisiert wurde, wobei der Nachhall des funktionell unentbehrlich gewordenen »Hase-und-Igel-Spiels« in der ungewöhnlichen Unaufrichtigkeit und konzeptuellen Widersprüchlichkeit dieses Dogmas noch zu hören ist. Der christliche Gott bleibt dadurch unausweichlich ein konzeptueller Zwitter zwischen »wundersamer körperloser Person« und »unklar körperloser Substanz«; am treffendsten bleibt daher seine Wesenscharakterisierung durch den von den Kirchen darum bis heute so gehaßten Haeckel als »gasförmiges Wirbeltier«.

 
 
Empfohlene Literatur: Sigmund Freud, Totem und Tabu, GW IX; Ivar Paulson, Die Seelenvorstellungen der eurasischen Völker, Stockholm 1958; Fritz Erik Hoevels, Die Unsterblichkeitsvorstellung im Lichte der Psychoanalyse, System ubw 1/92, Freiburg (Ahriman) 1992

 
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